Vor Ort in Göttingen

Erklärung über den Austritt der Sozialistischen Perspektive aus der Interventionistischen Linken

Als Sozialistische Perspektive blicken wir am 1. Mai 2024 auf zwei Jahre gemeinsame Praxis und zwei Jahre Organisierung in der Interventionistischen Linken (IL) zurück. Entwicklungen innerhalb der IL zwingen uns nun unsere Mitgliedschaft zu beenden. Wir erklären unseren Austritt aus der Interventionistischen Linken und unsere Entschlossenheit den von uns eingeschlagenen politischen Weg fortzusetzen.

Der Austritt aus einer politischen Organisation ist immer ein gewichtiger Schritt. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Zersplitterung der deutschen Linken und der sich gleichzeitig zuspitzenden gesellschaftlichen Verhältnisse, halten wir ihn für besonders erklärungsbedürftig. Darüber, warum wir gerade jetzt aus der IL austreten und wie dieser Schritt mit anderen, allgemeineren Entwicklungen in der deutschen Linken zusammenhängt, wollen wir im Folgenden Rechenschaft ablegen.

Einige von uns sind erst mit ihrer Mitgliedschaft in der SP zur IL gestoßen, Andere verbindet eine längere Geschichte mit der IL. Oft wurde uns in den letzten Jahren die Frage gestellt, warum wir eigentlich in der IL organisiert sind: Von Freund_innen aus anderen Organisationen, von Interessierten und Neumitgliedern der SP, von Genoss_innen aus der IL. Einen Teil der Antwort geben wir in unseren Gemeinsamen Standpunkten: Wir sind überzeugt, dass nur eine organisierte Linke eine erfolgreiche Linke sein kann.

Einige unserer Genoss_innen sind zu einer Zeit Teil der IL geworden, in der die Linke in Deutschland noch deutlicher am Boden lag als heute. In dieser Phase stellte die IL für sie einen positiven, einen organisierenden Faktor dar. Innerhalb der IL gab es außerdem in den letzten zehn Jahren Entwicklungen, die einer allgemeinen Bewegung in Teilen der Linken entsprachen: Eine Abwendung von einer rein mobilisierenden hin zu einer organisierenden Politik. Die Debatten um „Neue Klassenpolitik“, eine Rückbesinnung auf eine gesellschaftlichere Praxis, und ein Wiederentdecken der Arbeiter_innenbewegung und des Marxismus schlugen sich auch in der IL nieder. In der IL drückte sie sich das speziell in Experimenten mit neuen Praxisansätzen aus. Von Streikunterstützung im Krankenhaus, über Mieterselbstorganisation im Stadtteil bis hin zur Enteignungskampagne gegen „Deutsche Wohnen“ in Berlin. Es war diese Entwicklung, die für uns lange Zeit und insbesondere bei Gründung der SP ausschlaggebend war uns weiter in der IL zu organisieren. Wir hatten uns gewünscht, dass wir uns gemeinsam mit der IL in diese Richtung weiterentwickeln können. Dieser Wunsch hat sich leider nicht erfüllt.

Wir müssen mittlerweile feststellen, dass viele positive Entwicklungen in der IL zum Erliegen gekommen sind und nur noch eine randständige Rolle innerhalb der Organisationpolitik einnehmen. Während wir uns in der SP einig darüber sind, dass es eine Entwicklung gemeinsamer Standpunkte, gemeinsamer Bildung und vor Allem einer klassenkämpferischen Praxis braucht, stehen breite Teile der IL diesem Ansatz kritisch gegenüber. Gerade in den zuletzt geführten Debatten ist uns unmissverständlich bewusst geworden, dass unser politisches Ziel – die Selbstbefreiung der Arbeiter_innenklasse im Sozialismus und die Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen – von einer derzeit hegemonialen Strömung innerhalb der IL abgelehnt wird.

Dabei haben sich vier zentrale Punkte herauskristallisiert, die für uns die Unmöglichkeit einer weiteren Organisierung in der IL markieren:

1. Die Absage an eine gesellschaftliche Politik, die die Arbeiter_innenklasse als Subjekt der Kämpfe ins Zentrum stellt. Eine manchmal deutliche, manchmal unterschwellige Bestimmung der Arbeiter_innenklasse als Gegnerin der eigenen (Bewegungs-)politik.

2. Das Fremdeln mit demokratischen Organisationsprinzipien und Entscheidungsstrukturen.
Die Tendenz zu Organisationsprozessen, die informelle Hierarchien begünstigen.

3. Die Abgrenzung von marxistischen Organisationen denen wir uns in revolutionärer Solidarität verbunden fühlen. Eine Dogmatismuskritik, die vor Allem der Abgrenzung einer eigenen „undogmatischen Strömung“ dient.

4. Die theoretisch-ideologische Rechtfertigung dieser Haltungen durch die Einführung (links-)liberaler Theoriefragmente, u.a. das Konzept der „Imperialen Lebensweise“.

Eine Mehrheit der IL will diese Punkte zur Grundlage der politischen Arbeit der nächsten Jahre machen. Eine solche Abwendung von unseren grundsätzlichen politischen Standpunkten können wir weder mitgehen noch verteidigen.

Es gibt heute in Deutschland eine aufstrebende marxistische Linke und eine Vielzahl lokaler Experimente der Massenarbeit in Stadtteilen und Betrieben. Wir nehmen wahr, dass es in diesen Zusammenhängen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den praktischen, theoretischen und organisatorischen Fragen gibt, die sich auch uns stellen. Leider will nun auch die IL in eine falsche, antimarxistische Kritik einstimmen, die diese Ansätze pauschal als „autoritär“ oder „oberflächlich“ verdammt. Unser Austritt ist auch als klares Signal in dieser Hinsicht zu verstehen: An der Diffamierung der hoffnungsvollsten politischen Projekte der letzten Jahrzehnte werden wir uns nicht beteiligen.

Unser Austritt ist daher auch kein Ausdruck weiterer Zersplitterung oder eines Rückzugs in den Lokalismus, sondern entschiedene Parteinahme für eine ideologische, organisatorische und praktische Erneuerung der deutschen Linken. Die Verschärfung der (Welt-)Kriegsgefahr, die zunehmende militärische und ideologische Aufrüstung, der Aufstieg der Rechten und die Zuspitzung der kapitalistischen Krisen machen diesen Schritt notwendiger denn je.

Wir gehen trotz dieser großen politischen Differenzen ohne Groll aus der IL. Wir wissen gut, dass sich Positionen verändern, dass neue gesellschaftliche Entwicklungen zu neuen Bewertungen führen können. Viele positive Erfahrungen, die wir im Organisationsleben und auf der Straße gemeinsam gemacht haben, werden wir bewahren. Wir bleiben der IL in revolutionärer Solidarität verbunden und freuen uns, wenn sich in Zukunft wieder mehr Gelegenheiten der praktischen Zusammenarbeit finden lassen.

Sozialistische Perspektive

Göttingen, 1. Mai 2024

____________________________________________________________________________________

Für eine Sozialistische Perspektive!

Liebe Genoss*innen, Freund*innen, Kolleg*innen,

In den letzten Jahren ist vielleicht auch euch immer klarer geworden, dass die Linke in Deutschland den bestehenden und sich entwickelnden Herausforderungen weder organisatorisch noch theoretisch oder praktisch gewachsen ist. Eine Krise jagt die nächste, die Verhältnisse spitzen sich überall weiter zu. Die Gefahren und auch die Chancen wachsen, aber wo sind unsere Antworten? Die Bedingungen für eine stärkere Linke bestehen objektiv, dennoch bewegt sich wenig. Wir teilen die Analyse und das weit verbreitete Gefühl, dass eine Erneuerung der Linken schon lange überfällig ist. Aus den Debatten um neue Klassenpolitik, revolutionäre Realpolitik und Organisationsformen, sowie unseren praktischen Erfahrungen der letzten Jahre, wollen wir unsere politische Praxis in Göttingen und darüber hinaus weiterentwickeln. Dabei inspirieren uns die Aufbrüche, die wir in dieser Richtung in Deutschland, aber auch international, beobachten können.

Wir, das sind Genoss*innen aus der kommunistischen Bewegung, der migrantischen Selbstorganisation, der antifaschistischen Jugend und aus der Mehrheit der Antifaschistischen Linken International. Wir wollen mit an einer Linken bauen, die nicht nur Recht haben, sondern gewinnen möchte. Eine Linke also, die um konkrete Veränderungen und für ein klares Ziel kämpft – Für den Sozialismus

und einen kommunistischen Horizont!

Eine Sozialistische Perspektive einzunehmen, bedeutet für uns sich in die Kontinuität der Kämpfe zu stellen und ihre Lehren zu bewahren. Für eine Sozialistische Perspektive zu kämpfen, heißt die Voraussetzungen für den Bruch mit dem Kapitalismus Schritt für Schritt vorzubereiten und dafür eine moderne sozialistische Politik zu entwickeln.

Wir sind der Meinung, dass eine „neue“ Linke nur durch eine gesellschaftliche Praxis geschaffen werden kann, die an der Lebensrealität der arbeitenden Menschen ansetzt. Statt vom Rand aus zu kritisieren, wollen wir uns die Hände schmutzig machen. Gerade auch, weil wir nicht davon ausgehen, dass wir als organisierte Kerne aus uns selbst heraus alle Antworten auf die offenen praktischen, theoretischen und strategischen Fragen geben können. Um diese Fragen zu beantworten, brauchen wir die Wiederbelebung einer organischeren Verbindung mit unserer Klasse. Das Wissen, die Erfahrungen und die Kämpfe der Arbeiter*innenklasse müssen wieder Teil der Entwicklungsdialektik der Linken werden. Neben einer Praxis, die die große Mehrheit der Menschen in den Blick nimmt, sind dafür Organisationsformen und -angebote nötig, die eine breite Beteiligung abseits aktivistischer Lebensstile und akademischem Habitus ermöglichen. Bei uns kann man also auch mit Vollzeitjob, kleinem Kind oder pflegebedürftigen Eltern mitmachen. Um das zu ermöglichen, verfolgen wir Demokratie nicht nur als Ziel, sondern als grundsätzliches Organisationsprinzip. Denn nur in einer demokratischen Organisation können Alle Verantwortung tragen, mitbestimmen, und lernen die Führung zu übernehmen.

Wir gehören mit diesem Ansatz zu dem wachsenden und sich formierenden Teil der Linken, der an vielen Orten und mit vielen verschiedenen Herangehensweisen an der Erneuerung einer gesellschaftlichen und sozialistischen Linken arbeitet. Wir sind überzeugt, dass diese Anstrengungen nur Erfolg haben werden, wenn wir unsere Erfahrungen und Kämpfe kollektivieren, sie auf eine bundesweite sowie internationale Ebene heben und ihnen organisatorische Beständigkeit geben. Daran beteiligen wir uns in unserer Organisation, der Interventionistischen Linken (IL), der wir in Fortführung eines Teils unserer Gruppentradition angehören. An vielen Orten haben unsere IL-Genoss*innen bereits mit Ausdauer und Entschlossenheit begonnen gesellschaftliche und materielle Kämpfe zu unterstützen und zu führen. Wir werden uns daran in Göttingen und im Rahmen der bundesweiten Strukturen der IL beteiligen. Die IL gehört zu den Organisationen, die es geschafft haben verschiedene Traditionslinien der Linken zu vereinen – in ihr klingt damit bereits die weiter nötige Sammlung der gesellschaftlich orientierten und revolutionären Linken an.

Denn die Aufgabe vor der wir stehen, kann von keinem bereits existierenden Organisationszusammenhang allein gelöst werden. Wir wissen aber, dass Ansätze für eine gesellschaftlich relevante, zielorientierte Linke mit Klassenstandpunkt bereits an vielen Orten und in vielen Zusammenhängen existieren. In diesem Sinne, laden wir alle Personen, Gruppen und Organisationen, die Interesse an unserem Politikansatz haben herzlich zum Austausch und zur Zusammenarbeit ein. Lasst uns wagen zu kämpfen; lasst uns wagen zu siegen!

Für eine Linke, die gewinnen will!

Sozialistische Perspektive [IL]

1. Mai 2022

Mehr Informationen über die Grundlagen unserer Politik findet ihr in unseren Gemeinsamen Standpunkten


Weg vom Rand

Im Zuge der Gründung unserer Gruppe möchten wir uns noch einmal zu unserer Vergangenheit äußern und offene Fragen klären um zu vermeiden, dass Unklarheiten die gemeinsame Arbeit in Zukunft hemmen.

Im März 2021 spaltete sich die Antifaschistische Linke International (ALI). Die Mehrheit dieser Gruppe hat gemeinsam mit Genoss*innen aus der migrantischen Selbstorganisierung, der kommunistischen Bewegung und der antifaschistischen Jugend die Sozialistische Perspektive [IL] gegründet. Die alte ALI, die von 2004 bis zu dieser Spaltung immer ein Projekt verschiedener Strömungen war, existiert nicht mehr.

In Göttingen stehen wir als Sozialistische Perspektive [IL] in der Tradition der ALI, aber auch der Autonomen Antifa [M]. Trotz ihres Namens hat die [M] Anfang der 90er Jahre einen klaren Bruch mit der (Anti-)Politik der Autonomen vollzogen. Ihr Ansatz mit festem Gruppennamen, Bündnispolitik und Medienarbeit machte sie bei den Autonomen unbeliebt. Als die [M] sich 2004 in drei Teile spaltete, war es die ALI, die die internationalistische, antimilitaristische und revolutionäre Tradition der Gruppe fortsetzte. Wir sind stolz auf unseren Beitrag zu Geschichte und Politik der ALI und werden ihr positives Erbe in unserer neuen Gruppe fortführen und bewahren. Dazu gehört unter Anderem der klare moralische Bezug auf den Widerstand gegen den deutschen Faschismus, aus dem unsere Verpflichtung als Antifaschist*innen in Deutschland erwächst.

Rückblickend betrachtet hatte sich die Spaltung der ALI schon seit einiger Zeit angekündigt. Ein Grund dafür war der Versuch von unserer Seite, eine Diskussion über die strategische Ausrichtung der Gruppe zu führen. Auch wenn zunächst Einigkeit über die Notwendigkeit einer politischen Neubestimmung zu herrschen schien, wurden unsere Diskussionsansätze blockiert.

Es entstand eine Atmosphäre, in der uns gegenüber oft polemisiert wurde, unsere Initiativen feindselig ausgelegt und zum Teil mit Angriffen beantwortet wurden. In dieser Situation war es weder möglich eine Diskussion zu führen, noch eine Einigkeit in strittigen Fragen herzustellen. Trotz unserer Ansprüche, existierten in der ALI informelle und formelle Hierarchien, die keiner demokratischen Kontrolle unterlagen. Dadurch war es überhaupt erst möglich, dass Diskussionen blockiert werden konnten, auch wenn offensichtlich war, dass ein Großteil der Gruppe diese führen wollte.

In dieser Situation wurde von einer Genoss*in gegenüber einem Genossen der Vorwurf erhoben, sich antifeministisch geäußert zu haben. Unter den Frauen* der Gruppe herrschte hierzu keine Einigkeit, da es unterschiedliche Bewertungen der Situation gab. Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt drohte die spätere Minderheit in diesem Zusammenhang mit der Spaltung. Dass mit einer so hohen Eskalationsstufe geantwortet wurde, sehen wir im Nachhinein auch im Kontext des schwelenden Konflikts um die Neuausrichtung der Gruppe.

Nach mehreren Wochen zermürbender Diskussionen wurde deutlich, dass es keine Basis für die gemeinsame Organisierung mehr gab. In dieser Hinsicht herrschte zwischen uns und den Anderen Einigkeit. Grundsätzliche Uneinigkeit bestand aber darin, wie wir auseinander gehen wollten. Die Gegenseite verhielt sich so, als würde sie mehr Legitimität besitzen, die Gruppe zu sein als wir. Sie erhob den Anspruch auf die Strukturen und materiellen Güter der Gruppe. Eine Aushandlung darüber wurde de facto unmöglich gemacht, da vorab schon ein Großteil als nicht verhandelbar erklärt wurde.

Ein zentraler Streitpunkt war zudem die Mitgliedschaft in der Interventionistischen Linken (IL). Dieser wurde in der Organisation als formeller Neuaufnahmeprozess behandelt, innerhalb dessen sich die beiden neuen Gruppen bewarben. Die Entscheidung der IL uns wieder in die Organisation aufzunehmen, die Aufnahme der Minderheit aber abzulehnen, war das Resultat dieses ausführlichen Prozesses. Ausschlaggebend waren schlussendlich die politischen Positionierungen beider Gruppen.

Unsere Position war und ist eine Orientierung auf eine Politik, die die Gesellschaft und nicht nur die eigene politische Blase adressiert. Eine Politik, die zum Ziel hat, Menschen zu organisieren und die eine eindeutige Klassenperspektive einnimmt (Mehr dazu findet ihr in unseren „Gemeinsamen Standpunkten/Points of Unity“). Wir sehen uns als Teil der Gesellschaft und der Arbeiter*innenklasse. Daraus ergibt sich für uns die Notwendigkeit sie aus ihrer Mitte heraus zu verändern, statt sich bewusst an den Rand zu stellen.

Die erzwungene Spaltung und unser schwieriger Aufbruch zu etwas Neuem haben deshalb auch positive Seiten: Wir können uns endlich konstruktiv mit den drängenden Fragen unserer Zeit beschäftigen. Und wir können endlich an der Verwirklichung einer Praxis arbeiten, die wir schon lange machen wollten.

ALI-Mehrheit

01. Mai 2022