Am 7. Oktober 2023 begann das bisher letzte Kapitel des „Nahost-Konflikts“. Hunderte palästinensische Kämpfer überwanden die Sperranlagen um den seit 15 Jahren blockierten Gazastreifen. Sie griffen dabei nicht nur legitime militärische Ziele der israelischen Armee an, sondern begingen ein Massaker an über eintausend willkürlich ausgewählten Menschen. Rund 200 Geiseln wurden in den Gazastreifen verschleppt. Die israelischen Streitkräfte griffen den dicht besiedelten Gazastreifen seitdem mit massiven Luft- und Artillerieschlägen an und verhängten eine verschärfte Blockade, bei der unter anderem die Wasser- und Stromversorgung unterbrochen wurde. Bei den Angriffen wurden bereits jetzt mehrere tausend Palästinenser:innen getötet. Die aktuellen Kämpfe werden aller Erwartung nach in den nächsten Tagen in eine große Bodenoffensive des israelischen Militärs im Gazastreifen übergehen. Damit steigt die Gefahr eines regionalen Krieges zwischen Israel und vom Iran unterstützten Milizen und „Widerstandsgruppen“ im Libanon und Syrien.
Auch in Deutschland spüren wir die Auswirkungen des Krieges durch eine Kampagne der Bundesregierung, der bürgerlichen Parteien und Medien zur „bedingungslosen“ Unterstützung des israelischen Staates, aber auch durch Mobilisierungen der palästinensischen und arabischen Communities in Solidarität mit den Menschen im Gazastreifen. Die besondere Zuspitzung des Konflikts in Deutschland ergibt sich aus der deutschen Geschichte und ihrer unterschiedlichen Verarbeitung. Diese Besonderheit spiegelt sich auch in den Diskussionen und im Verhalten der Linken in Deutschland. Wir schreiben diesen Text, um einen Beitrag zu einer eigenständigen linken Position zu leisten.
Teil I – Situation in Palästina/Israel
Historischer Kontext
Es ist unmöglich den aktuellen Krieg in Palästina/Israel zu verstehen, ohne ihn in den Kontext des seit 75 Jahren andauernden Konflikts einzuordnen. In den bürgerlichen Medien und auch in den unzähligen Verlautbarungen der Politik findet diese Einordnung praktisch nie statt. Vor 75 Jahren wurde der Staat Israel auf einem Teil des ehemalig britisch besetzten Palästina gegründet. Auslöser dafür war einerseits die Masseneinwanderung jüdischer Flüchtlinge während und nach dem zweiten Weltkrieg, die vor der Vernichtung durch den deutschen Faschismus flohen. Andererseits die nationalistische Ideologie des Zionismus, die die Schaffung eines jüdischen Staats in Palästina anstrebte. Während des sofort beginnenden Krieges der arabischen Nachbarstaaten gegen Israel begann das, was die Palästinenser:innen „Nakba“ (Katastrophe) nennen: Mehrere hunderttausend Palästinenser:innen wurden von israelischen Truppen und Milizen aus ihrer Heimat vertrieben. Im „Sechstagekrieg“ eroberte Israel 1967 den Gazastreifen von Ägypten, die Golanhöhen von Syrien und das Westjordanland von Jordanien. Seit dieser Zeit ist Israel Besatzungsmacht und kontrolliert die Geschicke der palästinensischen Bevölkerung. Bereits im selben Jahr begann der Aufbau erster israelischer Siedlungen im Westjordanland, mittlerweile sind es mehr als 200 autorisierte und etwa 145 nicht-autorisierte Siedlungen. Ziel dieser Siedlungen, die oft von ultra-rechten und rassistischen Anhängern der israelischen Siedlerbewegung bewohnt werden, ist die faktische Einverleibung des Bodens, der bereits 1947 von der UN den Palästinenser:innen für einen eigenen Staat zugesprochen wurde. Darüber hinaus ist das Westjordanland in drei Zonen geteilt. Zwei der drei Gebiete stehen unter Kontrolle oder sogar direkter Verwaltung des israelischen Militärs. Ostjerusalem und die Umgebung wurden 1980 von Israel völkerrechtswidrig annektiert.
Auch im besetzten Gazastreifen wurden auf vierzig Prozent des Gebiets Siedlungen für 8000 Siedler:innen errichtet. Im Jahr 2005 erfolgte ein Abzug der Israelis und ein Abbau der Siedlungen. Aus den anschließenden Kämpfen um die Vormacht im Gazastreifen ging 2007 die islamisch-fundamentalistische Hamas als Sieger hervor. Diese wurde in ihrer Geschichte immer wieder von Israel unterstützt und gegen die früher starken linken und nicht-religiösen Teile der palästinensischen Befreiungsbewegung in Stellung gebracht. Auf die Machtübernahme der Hamas reagierte der israelische Staat mit einer zeitlich unbegrenzten Blockade des Gazastreifens, der bereits seit 1994 von einer Barriere umschlossen ist. Dazu zählen starke Importbeschränkungen für Güter und eine Reduzierung der Strom-, Wasser- und Lebensmittelzufuhr. Die Lebensbedingungen in dem kleinen und mit rund 2,3 Millionen Einwohner:innen dicht besiedelten Gebiet können nur katastrophal genannt werden. Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 19 Jahre, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 70 %. Strom gibt es nur stundenweise und im Jahr 2020 hatten nur zehn Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Widerstand gegen Unterdrückung ist legitim
Das Palästinensische Volk lebt also seit Jahrzehnten unter Besatzung und Unterdrückung. Im Westjordanland verfolgt der israelische Staat eine Politik des Siedlerkolonialismus. Dort gilt für israelische Siedler:innen das israelische zivile Recht, während für Palästinenser:innen Militärrecht gilt. Internationale Menschenrechtsorganisationen nennen das in Anlehnung an das überwundene System des rassistischen Südafrikas „Apartheid“. Im Gazastreifen werden die Menschen durch die Blockade unter immer elendigeren Bedingungen eingesperrt. In israelischen Gefängnissen sitzen über 5.000 palästinensische politische Gefangene, darunter 170 Kinder – über 1.300 von ihnen ohne jede Anklage. Ihre Situation hat sich durch den aktuellen Krieg massiv verschärft, es gibt Berichte über brutale Übergriffe des israelischen Staats.
Gegen diese Zustände und für ihre nationale Selbstbestimmung haben die Palästinenser:innen immer wieder Widerstand geleistet, unter anderem in zwei großen „Intifadas“ (Aufständen). Sie hatten und haben jedes Recht dazu. Genauso wie in Kurdistan oder der Westsahara müssen wir uns als Linke auch in Palästina klar an die Seite der Unterdrückten stellen. Der Kampf – auch der bewaffnete Kampf – der unterdrückten Völker gegen Kolonialismus und Besatzung ist für uns als Sozialist:innen ein untrennbarer Teil eines weltweiten Kampfes um Befreiung. Diese prinzipielle Haltung gilt es auch im Kontext des „Nahost-Konflikts“ zu behaupten. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir jegliche Form des Widerstands oder jede gewaltsame Aktion innerhalb einer Widerstands- oder Befreiungsbewegung gutheißen.
Befreiungskampf und Klassengesellschaft
Als Marxist:innen betrachten wir den Konflikt in Palästina/Israel nicht als Konflikt zwischen zwei homogenen Gruppen. Denn trotz aller Unterschiede sind sowohl die israelische als auch die palästinensische Gesellschaft Klassengesellschaften. Das bedeutet, dass wir immer zwischen den Menschen und ihren Interessen auf der einen Seite und „ihrem“ jeweiligen Staat (oder im Falle Gazas und des Westjordanlandes: der quasi-staatlichen Struktur) unterscheiden müssen. In einer Klassengesellschaft trägt auch der Staat einen Klassencharakter. Unter kapitalistischen Verhältnissen vertreten die Staaten vor allem die Interessen der Kapitalistenklasse, der Bourgeoisie – und nicht, wie uns diese Klasse gerne glauben lassen will, die Interessen der gesamten Bevölkerung. Das ist in den Palästinensergebieten und Israel nicht anders als bei uns in Deutschland, wo wir die Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung jeden Tag erleben. Gleichzeitig bedeutet eine Klassengesellschaft natürlich auch, dass sich innerhalb einer Bevölkerung Interessen unterscheiden, und sich schließlich in verschiedenen politischen und ideologischen Überzeugungen ausdrücken.
Die Menschen in beiden Gesellschaften – der israelischen und der palästinensischen – sind daher sehr unterschiedlich an der Besatzung und Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligt. So gibt es auf palästinensischer Seite eine Schicht, die durch Kollaboration mit dem israelischen Staat ein relativ gutes Leben führt. Teile der israelischen Gesellschaft setzen sich dagegen in Menschenrechtsorganisationen oder linken Bewegungen und Parteien für ein Ende der Besatzung ein.
Aus dieser Betrachtung der Widersprüche innerhalb der Gesellschaften wird klar, warum wir als Linke den Angriff vom 7. Oktober ablehnen und verurteilen. Die Aktion hat ihre Legitimität und jegliche positive Bedeutung, die sie für den Befreiungskampf in Palästina hätte spielen können durch den wahllosen Mord an zufällig aufgefundenen Menschen verloren. Wir verurteilen den Angriff der Hamas deshalb sowohl auf einer menschlichen als auch einer politisch-strategischen Ebene.
Antisemitismus ist kein Befreiungskampf
Die wahllose Ermordung von Menschen in Israel zum Ziel einer militärischen Aktion zu machen, legt die reaktionäre Ideologie der Hamas offen, die zwischen der Besatzungsarmee und israelischen Familien keinen Unterschied sieht. Die unterschiedslose Ermordung oder Entführung dieser Menschen entspringt einer Deutung des Konflikts, in der sich zwei gleichförmige Gruppen – Israelis/Juden und Palästinenser – todfeindlich gegenüberstehen. Aus dieser Sicht reicht die Zuordnung eines Menschen zur feindlichen Gruppe, um sie als zu tötenden Feind einzusortieren.
Ein solcher Angriff kann nur verübt werden, weil die Hamas eine rein militärische „Befreiungsstrategie“ der Ermordung oder Vertreibung aller Jüd:innen aus Israel/Palästina verfolgt. Der Angriff muss deshalb als antisemitischer Angriff charakterisiert werden, denn nur vor dem Hintergrund dieser Strategie erscheint ein Massenmord als „zweckmäßiges“ Mittel.
Die Hamas hat damit jegliche Illusion über ihren Charakter zerstört. Sie ist keine islamistische Analogie zu linken Befreiungsbewegungen, sondern ihr Gegenteil. Sie steht einer Befreiung des palästinensischen Volkes im Weg. Vor dem Hintergrund der Kräfteverhältnisse muss jede halbwegs realistische Strategie in Palästina auf eine politische Komponente setzen, die die israelische Bevölkerung adressiert und sie für ein Ende der Besatzungspolitik zu gewinnen versucht. Jede fortschrittliche Strategie muss das Leben, die Rechte und die Würde der einfachen Menschen auf beiden Seiten schützen – denn ihr Ziel ist nicht Vernichtung, sondern Befreiung und Koexistenz.
Solidarität mit dem Befreiungskampf und linken Kräften in Palästina/Israel
Unsere Solidarität kann aus den oben genannten Gründen niemals der Hamas gehören, sondern nur dem Befreiungskampf des unterdrückten palästinensischen Volks und den fortschrittlichen und linken Kräften in Palästina und Israel – also den politischen Kräften auf beiden Seiten, die für ein Ende der Besatzung und ein friedliches Leben in Gleichheit und Freiheit eintreten. Dass die Hamas im Gazastreifen herrscht und gegenwärtig die militärische Führung der palästinensischen Widerstandsbewegung einnimmt, ist für die Linke in Palästina und auch in der weltweiten Solidaritätsbewegung ein riesiges Problem. Dieses Problem kann aber nicht der Grund sein, sich von der gesamten Bevölkerung Gazas oder von den Palästinenser:innen insgesamt abzuwenden. Wir dürfen ihre faktische Gleichsetzung mit der Hamas nicht mitmachen. Denn diese bedeutet für die Einwohner:innen Gazas aktuell das tausendfach vollstreckte Todesurteil. Die reaktionäre und rassistische israelische Regierung steht der Hamas in nichts nach. Sie bereitet den Einmarsch im Gazastreifen nicht nur durch Bombenterror, sondern auch durch eine Entmenschlichung der Bevölkerung vor. Anders kann man die Rede von „menschlichen Tieren“ (Außenminister Galant) nicht verstehen.
Teil II – Situation in Deutschland
Instrumentalisierung des Antisemitismusbegriffs
In Deutschland erleben wir eine besondere Zuspitzung des Konflikts. Es rollt eine Kampagne der bürgerlichen Parteien und Medien, die „uneingeschränkte“ Solidarität mit dem israelischen Besatzerstaat fordern und proklamieren. Flankiert wird das durch Demonstrationsverbote, Verbotsankündigungen palästinensischer Organisationen und einer massiven Vorverurteilung der palästinensischen, arabischen und muslimischen Minderheiten im Land. Der Kern dieser Kampagne, die in ihrer Machart stark an die Kampagne zur Durchsetzung des Regierungsnarrativs im Russisch-Ukrainischen Krieg erinnert, ist eine massive Ausweitung und Verwässerung des Antisemitismusbegriffs. Die Vorarbeit dazu wurde bereits in den vergangenen Jahren geleistet. Bereits 2017 hat der Bundestag nicht nur die Annahme der umstrittenen „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) – einer zwischenstaatlichen Organisation bürgerlicher Staaten – beschlossen, sondern sie selbst um zwei Sätze erweitert, um den israelischen Staat mit in die Definition aufzunehmen. Von den elf Beispielen für Antisemitismus, die die Arbeitsdefinition auflistet, beziehen sich neun auf den israelischen Staat. So sei zum Beispiel „die Darstellung Israels als rassistisches Projekt“ antisemitisch. In direkter Folge wurde 2019 die „Boycott, Divestment and Sanctions“-Bewegung (BDS) durch den Bundestag für antisemitisch erklärt. Die Politik des deutschen Staates richtet sich offen gegen alle Bestrebungen der praktischen Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Es ist eine Politik, die nicht nur den bewaffneten Widerstand der Palästinenser:innen, sondern auch friedliche Aktionsformen bis hin zur bloßen Kritik am israelischen Staat als antisemitisch brandmarken will.
Die Politik der Bundesregierung, der bürgerlichen Parteien und Medien verwischt dabei systematisch die Grenzen zwischen Jüd:innen, Israelis und dem Staat Israel. Ganz nach dem Vorbild des Zionismus, der Israel als vorrangig jüdischen Staat definiert und einen Anspruch auf die Vertretung der Jüd:innen weltweit erhebt. Mit dieser Verwischung fördert die deutsche Politik unweigerlich antisemitische Vorstellungen, die zwischen Anhänger:innen des Judentums, Bürger:innen Israels und dem Staat Israel keinen Unterschied machen. Eine linke Kritik am Handeln des israelischen Staats, an Besatzung und Siedlerkolonialismus muss weiter auf die trennscharfe Unterscheidung zwischen diesen Kategorien bestehen.
Reaktionäres Identitätsangebot für Deutsche und Hetze gegen Migrant:innen
Die bürgerliche Politik verfolgt mit ihrer völlig einseitigen Haltung, mit ihrer zur Schau gestellten Unterstützung jeglicher Handlungen des israelischen Staates, eine Form reaktionärer deutscher Identitätspolitik. Ausgehend von den Gefühlen der kollektiven Scham und Verantwortung, die viele Deutsche aufgrund des Holocaust richtigerweise verspüren, wird mit der bedingungslosen Unterstützung Israels ein Angebot der individuellen wie kollektiven Entschuldung angeboten. Deutsche sollen ihre kollektive Vergangenheit und individuellen Gefühle durch eine feste Positionierung an der Seite des israelischen Staates verarbeiten – der deutsche Staat und damit die deutsche Nation als „geläutert“ präsentiert werden. Es ist eine absolut reaktionäre Art, mit der deutschen Geschichte umzugehen, die im Endeffekt bedeutet, dass die Deutschen ihr schlechtes Gewissen mit dem Blut der Palästinenser:innen reinwaschen sollen.
Passend zu dieser reaktionären Entschuldungskampagne erfolgt die Zuweisung des Antisemitismus in Deutschland. Über diesen wird aktuell vor allem als „importierter“ Antisemitismus gesprochen – als ein Problem von Migrant:innen aus der muslimischen Welt. Die gleichen Politiker und Medien, die vor ein paar Wochen alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger vor dem Vorwurf des Antisemitismus zu verteidigen, vertreten nun schamlos die Identifikation des Antisemitismus mit Menschen mit Migrationsgeschichte. Während die antisemitische Hetzschrift Aiwangers als „Jugendsünde“ bagatellisiert wurde und dessen Partei bei den Landtagswahlen in Bayern sogar noch dazugewinnen konnte, werden heute junge Menschen mit Pali-Tuch oder Palästinaflagge als Quelle des Antisemitismus in Deutschland verunglimpft. Natürlich gibt es auch in den Communities der muslimisch/arabischen Minderheiten Antisemitismus. Die bürgerliche Politik trägt mit ihren völlig einseitigen Beschuldigungen aber eher zu dessen Gedeihen als zu seiner Bekämpfung bei. Als Antifaschist:innen wissen wir gut, dass die bürgerlichen Parteien und ihr Staat kein Problem mit Antisemitismus an sich haben. Denn deutsche Antisemiten von NPD und Co. lassen sie Woche für Woche unter Polizeischutz durch die Städte unseres Landes marschieren. Lassen wir uns von der Heuchelei der Politik also nichts vormachen. Der notwendige Kampf gegen Antisemitismus wird weiterhin nicht durch sie, sondern gegen sie geführt werden müssen.
Repression und Verbotspolitik
Pauschale Verbote palästinasolidarischer Demonstrationen sind Angriffe auf Meinungsfreiheit und Versammlungsrecht. Der bürgerliche Staat versucht den Spielraum für kritische Stimmen zu verengen. Die Einschränkung der Grundrechte wird dabei mit einem Ausschluss der kritischen Positionen aus dem erlaubten Meinungskorridor, aus der Sphäre der „deutschen Staatsräson“ gerechtfertigt. Dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit gerade gegen staatlicherseits als unhinterfragbar gesetzte Positionen und gegen die Regierungsmeinung möglich sein müssen, scheint die Vertreter der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ nicht zu stören. In der aktuellen Situation wird wieder deutlich, wie schnell die herrschende Klasse und ihre politische Vertretung bereit sind auch vermeintliche „Grundrechte“ einzuschränken.
Die Repression trifft dabei im Moment vor allem die palästinensische Minderheit und palästinensische Organisationen in Deutschland. Als Linke müssen wir uns mit den Palästinenser:innen und ihren fortschrittlichen Organisationen solidarisieren. Wir dürfen sie nicht allein lassen, denn ihre Isolation ist das Ziel der Regierungspolitik. Dabei richten sich die Einschränkungen des Sagbaren und die Demonstrationsverbote unmittelbar auch gegen die gesamte Linke in Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist die Zustimmung der reformistischen Linkspartei zu einer Regierungserklärung der „vollen Solidarität mit Israel“ und die damit erreichte Einstimmigkeit des Bundestages unter Einschluss der AfD ein fatales Zeichen. Gegen diese symbolische Einheitsfront der Reformisten mit Regierung und Faschisten müssen wir als Linke aktiv werden. Wer sich als Linker hinter die bürgerliche Regierung stellt, einer Regierung, die aktuell sogar einen rein humanitären Waffenstillstand in Gaza ablehnt, der macht sich mitschuldig. Nicht nur an den Kriegsverbrechen gegen die Menschen in Gaza, sondern auch an den Auswirkungen, die diese Regierungspolitik auf das politische Klima in Deutschland haben wird.
Aufgaben der Linken in Deutschland
Die deutsche Linke muss unter dem Druck der politischen Kampagne der Regierung eine eigene internationalistische Position behaupten. Wir dürfen das vergiftete Angebot der vermeintlich gegen Antisemitismus gerichteten Position der Bundesregierung nicht schlucken. Wir müssen zeigen, dass wir uns nicht zwischen der reaktionären Hamas auf der einen und der reaktionären Politik des deutschen und israelischen Staats auf der anderen Seite entscheiden müssen. Dabei dürfen wir uns von den Medien nichts vormachen lassen: Die öffentliche Meinung und die veröffentlichte Meinung sind verschiedene Dinge. Die Menschen in Deutschland sind nicht dumm. Viele erkennen die Einseitigkeiten in Berichterstattung und Politik. Eine linke Antwort muss auf der Straße stattfinden, wo wir uns den Mobilisierungen der Palästinenser:innen dort anschließen, wo sie nicht von reaktionären antisemitischen Kräften ausgehen. Wir müssen in der Breite der deutschen Gesellschaft klarmachen, dass es eine Alternative zur Regierungsposition gibt und dass diese Alternative eine fortschrittliche und linke Position ist. Anders als beim Thema Ukraine bieten die Faschisten der AfD diesmal keine Scheinopposition zur Regierung, der Raum für eine linke Position ist weit offen.
Der Kampf für eine sichtbare linke Position ist dabei auch ein Kampf um unsere eigene Identität als Linke in Deutschland. Angesichts der von der Regierung geforderten Verarbeitung durch Komplizenschaft müssen wir innerhalb der Linken eine eigene Antwort auf die Frage nach einer fortschrittlichen deutschen Identität finden. Diese Frage wurde von weiten Teilen der Linken jahrelang völlig ignoriert und spielt eine Rolle bei der Anfälligkeit linker Milieus für die Regierungsposition. Die „antideutsche“ Position gleicht wieder einmal offen der Regierungsposition und trotzdem wirken Ideologiefragmente dieser nun abschließend als rechts entlarvten Strömung weiter. Als Internationalist:innen und Antiimperialist:innen müssen wir auch innerhalb der Linken einen Kampf um eine prinzipielle politische Haltung und die richtige Praxis führen. Es gilt die verständlicherweise verunsicherten, aber gewinnbaren Teile der Linken aus der Passivität zu lösen.
Jeder großen Krise liegt auch eine große Chance inne. Aus der Dynamik des Krieges kann eine Bewegung für ein Ende der Besatzung Palästinas entstehen. Aus unserer Antwort auf die Angriffe und reaktionären Identitätsangebote der Regierung kann eine erneuerte Linke entstehen.
Alles ist möglich, wenn wir kämpfen!
Frieden und Freiheit für Palästina!
Sozialistische Perspektive, Oktober 2023